Erschossen in Moskau
Digitales Totenbuch und Online-Ausstellung über deutsche Opfer des Stalinismus
Zwischen 1950 und 1953 wurden etwa 7000 Deutsche von Sowjetischen Militärtribunalen in der DDR zum Tode verurteilt, nach Moskau gebracht, dort erschossen und auf dem Friedhof Donskoje kremiert und verscharrt. Die Verurteilten stammten nicht nur aus der DDR, sondern wurden teilweise in der Bundesrepublik und sogar in Österreich gekidnappt.
Wer waren die Ermordeten? Weshalb wurden sie verfolgt und hingerichtet? Wie gelangten ihre sterblichen Überreste auf den Friedhof Donskoje?
Diesen Fragen ging MEMORIAL gemeinsam mit Facts & Files Historisches Forschungsinstitut Berlin 2004 im Rahmen eines von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten internationalen Forschungsprojektes nach und rekonstruierte das bislang ungeklärte Schicksal von 928 Opfern.
(c) Jekaterina Rerberg
Elena Zhemkova, heute Geschäftsführerin von Zukunft MEMORIAL im Exil in Berlin und damals Geschäftsführerin von MEMORIAL International in Moskau, erinnert sich an die Arbeit:
„Seit der Gründung von MEMORIAL war es eines unserer zentralen Anliegen, die Namen möglichst aller Opfer politischer Repressionen zu finden und zu veröffentlichen. Schon in den späten 1980-er Jahren begannen wir damit überall, wo einmal die Sowjetunion war. Jeder Name soll dem Vergessen entrissen, das Schicksal jedes einzelnen Opfers sichtbar gemacht werden.
Allein in der Region Moskau ist die Zahl der Opfer erschütternd hoch – mehr als 130.000 Menschen wurden in den 70 Jahren Sowjetunion vom Staat ermordet. In den 1990-er Jahren gelang es uns zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, fünf bis dahin geheime Massengräber von Opfern politischer Repressionen zu entdecken und zu dokumentieren: im Park des Jausa-Krankenhauses, auf dem Friedhof Wagankowo, dem Friedhof Donskoje, sowie in Butowo und Kommunarka, beide südlich von Moskau gelegen, zwei große Gelände, auf denen die Menschen erschossen und dann an Ort und Stelle begraben wurden.
Unter der Leitung von Arsenij Roginskij, dem Vorsitzenden von MEMORIAL International, durchsuchte ein großes Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, viele davon ehrenamtlich, systematisch Archive, um die Biografien der Opfer zusammenzutragen. So entstanden Gedenkbücher zu den jeweiligen Massengräbern.
2005 erschien ein Gedenkbuch zum nahe des Moskauer Stadtzentrums am Sitz des orthodoxen Patriarchen gelegenen Friedhofs Donskoje. Darin finden sich 5.068 Kurzbiografien von Menschen, die zwischen 1937 und 1953 in Moskau hingerichtet und im Krematorium des Friedhofs verbrannt wurden. Ihre Asche wurde anschließend heimlich in sogenannten „Gräbern für nicht abgeholte Asche“ vergraben.
Schon dieses Gedenkbuch enthielt mehr als 700 Biografien von deutschen Staatsbürgern. Deshalb entstand die Idee, ein eigenes Buch auf Deutsch für die deutschen Opfer herauszugeben. Gemeinsam mit Facts & Files aus Berlin und mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist es uns so gelungen, die Namen und Biografien von 928 Menschen zusammenzutragen. Unsere Freunde von MEMORIAL Deutschland halfen uns bei der Überprüfung der richtigen Schreibweise der deutschen Namen und Adressen, die ja aus dem Russischen zurück ins Deutsche transkribiert werden mussten.”
«Jeder Name soll dem Vergessen entrissen, das Schicksal jedes einzelnen Opfers sichtbar gemacht werden. »
Elena Zhemkova, Geschäftsführerin von Zukunft MEMORIAL
Vor genau zwanzig Jahren war es dann so weit: Das Totenbuch Erschossen in Moskau konnte erscheinen. Damit konnten wir auch deutschen Opfern des Stalinismus ihre Namen, Gesichter und Geschichten zurückzugeben. Allerdings sind wir nicht sicher, dass auch alle im Totenbuch Genannten tatsächlich nur Opfer sind. Viele wurden später vom sowjetischen Staat rehabilitiert. Das ist so gekennzeichnet. Andere wiederum aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht. Manche der aufgeführten Menschen waren Täter und Opfer zugleich. Die sowjetische Militärgerichtsbarkeit hat sich aber nicht die Mühe gemacht, sie wegen ihrer Taten im Dienst des nationalsozialistischen Regimes zu verurteilen, sondern unter oft ausgedachten Anschuldigungen, zum Beispiel als „amerikanischer Spion“, der sie nicht waren. Weil das alles aufzuklären die Kräfte und Möglichkeiten von MEMORIAL und Facts & Files überfordert hätte, manche Verdachte wohl auch kaum mehr aufzuklären wären, haben wir uns vor 20 Jahren dazu entschlossen, alle Namen aufzunehmen und diejenigen zu kennzeichnen, die rehabilitiert wurden.
Im Juli 2025 geht auch das digitale Totenbuch Donskoje1950-1953.de online: Auf einer interaktiven Karte können die Geburtsorte und die letzten Wohnorte der Opfer gefunden und mit ihren Fotos und Biografien verknüpft werden.
Die Forschungsergebnisse aus der Zusammenarbeit von MEMORIAL und Facts & Files sind außerdem in eine Online-Ausstellung eingeflossen. Sie zeigt exemplarische Schicksale von Opfern und erzählt die Geschichten ihrer Familien, die jahrzehntelang im Ungewissen über den Verbleib ihrer Angehörigen waren.
Heute noch nutzt MEMORIAL Deutschland das Buch als dokumentarische Grundlage für das Projekt Die letzte Adresse. Angelehnt an die „Stolpersteine“, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, macht die „Die letzte Adresse“ den letzten Wohnort von Opfern des stalinistischen Terrors sichtbar, indem an den Häusern, aus denen die Menschen verschleppt worden waren, Gedenktafeln angebracht werden.
Interviews und Kontakt
Für Interviewanfragen und das Vereinbaren von Hintergrundgesprächen mit unserer Vorsitzenden Irina Scherbakowa, unserer Geschäftsführerin Elena Zhemkova und mit weiteren Expertinnen und Experten stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung. Auf Anfrage stellen wir Ihnen Bild- und Bewegtbildmaterial bereit. Sie möchten in unseren Presseverteiler aufgenommen werden, oder haben konkrete Anfragen? Kontaktieren Sie uns: