Rede von Herta Müller

Rede von Herta Müller

Am 6. Dezember 2023, ein Jahr nach der Verleihung des Friedensnobelpreises, lud Zukunft Memorial in Berlin dazu ein, über menschenrechtliche und historische Arbeit in Zeiten des Krieges nachzudenken.

Wir diskutierten mit den anderen Nobelpreisträgern – Oleksandra Romantsova (Zentrum für bürgerliche Freiheiten, Ukraine) und Konstantin Staradubets (stellvertretend für den sich in politischer Gefangenschaft befindenden Ales Bjalazkij, Belarus) –, dem Historiker Karl Schlögel und der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Herta Müller.

Bei dieser Veranstaltung hielt Herta Müller eine beeindruckende Rede, die wir Ihnen nicht vorenthalten wollen.

Sehr geehrte Damen und Herrn,

wenn man für den Krieg gegen die Ukraine das Wort Krieg benutzt, kommt man in Russland ins Gefängnis. Hat es das in der Welt schon mal gegeben, dass ein Diktator, der einen Vernichtungskrieg führt, das Wort Krieg verbietet. Dass er diesem Wort den Mund zuhält und die Augen. Und dabei ist dieser Krieg seine Hauptbeschäftigung. Eine andere hat er gar nicht mehr. Sein Ersatzwort für Krieg ist Spezialoperation. Ein Geheimdienstwort, eine Formel aus der KGB-Welt, die ihm in den Kopf gewachsen ist. Ich glaube, Putin ist ein sentimentaler Verbrecher, der durch Massenmord seine Jugendzeit zurückholen will.

Und die Welt steht Kopf, weil er sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt auf den Kopf zu stellen.

Heute redet Putin unverhohlen vom „Einsammeln“ und „Heimholen“ der abhanden gekommenen Sowjetgebiete „mit allen Mitteln“- wie er betont. Putin kokettiert mit der Atombombe. Der Feldherr ist auch ein Hasardeur. In seinem Gesicht steht die Mischung aus Kampfhund und Roboter. Landraub, Folterkeller, Streubomben, Phosphorbomben, Deportationen, Vertreibungen, Zwangsrussifizierungen reichen ihm nicht mehr. Er sät, wo er Lust hat, den Tod. Auch in Russland selbst. Krieg garantiert Putin auch zu Hause Personenkult und grenzenlose Willkür. Er wird nicht aufhören damit. Denn er weiß: Krieg ist die beste Form der Alleinherrschaft. Was gibt es in Russland noch außer der totalen Entmündigung durch eine irre Propaganda? Deren Ziel ist die Verrohung der Gefühle bis hin zum Verlust jeglicher Humanität. Viele folgen ihm dabei, im Dienst des Vaterlandes die Ukraine zu vernichten. Und die russischen Popen bringen sogar ihren Gott mit ins Spiel.

Putin annektiert Gebiete und spürt dabei den Geschmack des Imperiums Sowjetunion. Dieses Imperium seiner Jugend war eine doppelte Kolonialmacht. Einmal im Inneren der Sowjetunion, wo die vielen Minderheiten nicht nur durch den Druck der Kommunistischen Partei eingeschnürt, sondern auch durch die Arroganz des russischen Nationalismus missachtet wurden. Übrigens rekrutiert Putin heute für seinen Krieg aus diesen Minderheiten die meisten Soldaten – also beschert er ihnen die meisten Toten, die größten Friedhöfe.

Und dieselbe Einschnürung und Arroganz der Kolonialmacht herrschte früher auch nach außen, in den osteuropäischen Ländern. Die Sowjets wurden als russische Besatzer empfunden – und das waren sie auch. Den Ländern Osteuropas zwangen sie Diktaturen nach sowjetischem Muster auf. Die Sowjets konnten, wie es sich für Kolonialherren gehört, ungestraft schalten und walten. Rechtfertigen mussten sie sich für nichts. Genommen haben sie sich jahrzehntelang von überall alles, was sie brauchten. Und mitgebracht haben sie die Kultur der politischen Verfolgung und die Dressur durch Angst. Und Pläne für Lager und Gefängnisse. Sonst nichts. Wenn die besetzten Länder sich wehrten, kamen aus Moskau die Panzer und das Blutbad.

In Russland selbst darf man bis heute nichts über die Verbrechen von innen und außen, von damals und heute, wissen. Deshalb wurde Memorial verboten. Mittlerweile herrscht in Russland wieder das stalinistische Schweigen. Die Gefängnisse sind wieder voll und Lager gibt es noch immer. Aber in den ehemaligen Kolonien hört man das laute Entsetzen. Man muss nur ein Deportationsmuseum in den baltischen Ländern besuchen. Osteuropa muss den westlichen Ländern immer wieder seine Angst vor Russland erklären. Trotz Georgien, trotz Transnistrien, trotz Belarus und sogar trotz der Ukraine. Diese Angst ist keine Hysterie, sondern Erfahrung, die der Westen ernst nehmen muß.
Es sind die ungezählten Erfahrungen der Ohnmacht wie auch ich sie in Rumänien machen musste. Bei einem der vielen Verhöre, von denen ich nie wusste, wann und wie sie enden, schrie der Geheimdienstler:

Was glaubst du, wer du bist. O nimica toată – ein ganzes Nichts.
Ich sagte: Ich bin ein Mensch wie Sie.
Darauf sagte er: Das glaubst du. Wir bestimmen, wer du bist.

Was ist ein ganzes Nichts? Ist ein ganzes Nichts noch weniger als ein halbes?
Solche Dialoge vergißt man nie. Man weiß für immer wie die Angst glüht und der Mund gefriert.

Memorial arbeitet am Gedächtnis der Unterdrückung von Millionen Menschen, von damals und heute. Memorial zeigt anhand von Dokumenten, wie das war und heute wieder ist, wenn die Angst glüht und der Mund gefriert: Also Memorial beweist, wieviel in jedem einzelnen Menschenleben zerstört wird, wenn ein ganzes Nichts weniger ist, als ein halbes.

Berlin, 06.12.2024