Ein Interview mit unserer Vorsitzenden, Frau Dr. Irina Scherbakowa
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz fand in einer angespannten geopolitischen Lage statt: Ein festgefahrener Krieg in der Ukraine, eine neue US-Regierung unter Donald Trump und wachsende Unsicherheiten über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Besonders die Rede von Vizepräsident J. D. Vance sorgte für Diskussionen – der von ihm präsentierte „schnelle Friedensplan“ wurde von vielen als unrealistisch und verantwortungslos kritisiert.

Dr. Irina Scherbakowa (© Daria Krotova, Zukunft MEMORIAL)
Dr. Irina Scherbakowa, die Vorsitzende von Zukunft MEMORIAL e.V., war vor Ort. Im Gespräch mit Jakub Paczkowski berichtet sie über die Atmosphäre in München, die Auswirkungen der neuen US-Politik und die Frage, ob Europa in dieser Situation seine sicherheitspolitische Eigenständigkeit stärken kann.
Jakub Paczkowski, Jounalist und Zukunft MEMORIAL Mitarbeiter:
Sie sind gerade von der Münchner Sicherheitskonferenz zurückgekehrt. Wie war dort die Atmosphäre?
Dr. Irina Scherbakowa, Vorsitzende von Zukunft MEMORIAL e.V.:
Die Atmosphäre war sehr angespannt – und das war auch zu erwarten. Im Vorfeld standen bereits viele Fragen im Raum, insbesondere zur neuen US-Regierung unter Donald Trump. Er kam jedoch nicht selbst, sondern schickte seinen Vizepräsidenten J. D. Vance. Alle warteten gespannt darauf, ob es tatsächlich diesen angekündigten „schnellen Friedensplan“ gäbe und was dabei herauskommen könnte.
Ein kleiner Rückblick: Ich war 2023 bei der Münchner Sicherheitskonferenz, also ein Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine. Damals war die Lage natürlich sehr kritisch, der Ausgang des Krieges völlig unklar. Gleichzeitig war eine gewisse Hoffnung spürbar, dass die Ukraine den Krieg möglicherweise sogar militärisch gewinnen könnte: Die russische Offensive war 2022 deutlich gestoppt worden, und die Ukraine hatte im Herbst desselben Jahres militärische Erfolge erzielt. 2023 war keine offizielle russische Delegation anwesend; nur einige Vertreter*innen der russischen Opposition waren da. Ein Jahr später, 2024, wirkte die Situation noch schwieriger. Direkt vor Beginn der Konferenz erreichte uns die Nachricht, Nawalny sei ermordet worden. Seine Frau Julia, die ich dort sah, hielt kurz darauf eine Rede – unvorstellbar, welche Kraft sie dafür aufbringen musste. Allen war sofort klar, dass es sich um Mord handelte.
Jetzt ist die Lage an der Front in der Ukraine festgefahren: Die Ukraine verfügt nicht über genügend Kräfte, um den Krieg schnell zu entscheiden, und Putin kann keine echten militärischen Erfolge mehr vorweisen. Es herrscht ein Patt, und genau in dieser Situation trat Vizepräsident Vance auf, der weiterhin von einem „schnellen Friedensplan“ sprach.
Die Konferenz war diesmal extrem voll, viel voller als ich es aus den Vorjahren kannte. Man hatte fast das Gefühl, sich wie in der Moskauer Metro zur Stoßzeit durch die Menschenmassen zu kämpfen. Während der Rede des Vizepräsidenten hatte ich das Gefühl, einen historischen Moment für Europa zu erleben.
J.P.:
Darauf würde ich gern näher eingehen. Das war die erste Sicherheitskonferenz mit der neuen US-Regierung, einer ganz neuen Richtung. Viele Kritiker*innen sagen, dass die Administration komplexe Konflikte mit unrealistischen Versprechen vereinfacht. Besonders Vance’ Aussagen wirken populistisch und ignorieren europäische Sicherheitsinteressen. Wie realistisch ist eine schnelle Friedenslösung?
Dr. Irina Scherbakowa:
Vizepräsident Vance vertrat in München die Linie der Regierung Trump, dass man in wenigen Tagen einen Frieden herbeiführen könne. Das wirkt auf mich sehr populistisch und verantwortungslos. Ähnlich wie Trump selbst hat auch Vance klare autoritäre Tendenzen in seiner Rhetorik gezeigt. Möglicherweise basiert dieser „Plan“ auf der Vorstellung, dass sich zwei „starke Männer“ – Präsident Trump und Putin – über die Köpfe der Ukraineund Europas hinweg einigen könnten. Die Realität sieht allerdings völlig anders aus: Bereits kurz nach der Konferenz begann eine Reihe von Gesprächen zwischen amerikanischen und russischen Vertreter in Saudi-Arabien, und es ist klar, dass dies nicht in „drei Tagen“ erledigt ist.
Putin hatte zu Kriegsbeginn in der Ukraine auch einen konkreten Plan: Er wollte Kiew sehr schnell einnehmen, die ukrainische Regierung zur Kapitulation zwingen und eine eigene Marionettenregierung installieren. Man sprach in seinem Umfeld von „Kiew in drei Tagen“. Er unterschätzte jedoch völlig die Widerstandskraft der ukrainischen Armee.
J.P.:
Wie wirkt sich das auf die transatlantische Partnerschaft aus? Viele haben das Gefühl, Europa sei nicht in die Gespräche eingebunden. Zerbricht die Verbindung zwischen den USA und Europa – oder wie sehen Sie das?
Dr. Irina Scherbakowa:
Die Rede von Vizepräsident Vance in München hat mich regelrecht vom Stuhl fallen lassen. Seine Wortwahl und sein Duktus waren wie aus einer völlig anderen Welt. Seit 1945 – seit die Alliierten Hitler besiegt haben und es zum Kalten Krieg kam – gilt die transatlantische Allianz als Garant für Europas Sicherheit. Die USA haben Europa damals wirtschaftlich und militärisch gestützt, man denke an den Marshallplan und die NATO.
Natürlich gab es während des Kalten Krieges auch Enttäuschungen. Wenn beispielsweise Ungarn 1956 oder die Tschechoslowakei 1968 versuchten, sich vom sowjetischen Einfluss zu befreien, blieben direkte militärische Hilfen des Westens aus. Es herrschten starre Blöcke, und man nahm höchstens Flüchtlinge auf.
Nach 1990 entstand ein neues Gleichgewicht, und Länder wie Polen oder die baltischen Staaten bemühten sich um den NATO-Beitritt – was viele damals für übertrieben hielten, weil man Russland nicht mehr als Bedrohung wahrnahm. Aber heute zeigt sich, dass ihre Sorge keineswegs unbegründet war.
Dass Vizepräsident Vance nun den Wert der NATO infrage stellt, ist ein Novum. Er griff die europäische Demokratie an und warf den Europäer*innen vor, sie seien gar nicht so demokratisch, während er gleichzeitig Trumps Politik verteidigte, die bekanntermaßen selbst große Zweifel an der Stabilität der amerikanischen Demokratie aufkommen ließ (man denke nur an den Sturm auf das Kapitol). All das wirkt äußerst demagogisch und arrogant.
Bei vielen Aussagen hatte ich das Gefühl, er wolle sich nur um „amerikanische Angelegenheiten“ kümmern und Europa im Stich lassen. Das ist ein klarer Bruch mit der bisherigen transatlantischen Partnerschaft und erinnert mich an Putins Rede in München 2007, in der er offen ankündigte, die alte sowjetische Einflusssphäre wiederherstellen zu wollen. Heute haben wir jedoch bereits einen realen Krieg, und wenn die USA in dieser Lage einen Rückzieher machen, ist Europa mit der Ukraine im Rücken an die Wand gedrückt.
J.P.:
Unter diesen Bedingungen müssen die Europäer stärker zusammenrücken. Am 17 Februar, direkt nach der Sicherheitskonferenz in München, trafen sich viele EU-Staats- und Regierungschefs in Paris bei Emmanuel Macron, um eine gemeinsame Antwort zu formulieren. Glauben Sie, dass ihnen das gelingt?
Dr. Irina Scherbakowa:
Man hörte, dass sie über Sicherheitsgarantien für die Ukraine diskutierten. Die Frage ist: Welche Garantien gegen Putin können überhaupt funktionieren? Militärische Präsenz wäre eine Option. Aber ob viele europäische Länder dazu wirklich bereit sind, ist fraglich. Vielleicht Großbritannien oder Frankreich, die baltischen Staaten oder Polen. Deutschland agiert da sehr zögerlich, und auch Polen äußerte sich zumindest öffentlich vorsichtig.
In meinen Augen braucht es zwei Dinge: erstens eine verlässliche militärische Unterstützung der Ukraine und zweitens einen „Marshallplan“ für den Wiederaufbau. Das alles wird viel Geld kosten. Doch ohne beides wird man keine dauerhafte Stabilität erreichen. Selenskyj hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ukraine zurzeit die schlagkräftigste Armee Europas hat. Tatsächlich sind viele europäische Streitkräfte in keinem guten Zustand.
Gerade deswegen ist ein Engagement für die Ukraine eigentlich im ureigenen Interesse Europas. Lässt man die Ukraine jetzt allein, wird das Putin nur ermutigen, seinen Einfluss in Europa weiter auszubauen, besonders über Wahlbeeinflussung, Unterstützung rechts- oder sogar linksradikaler Kräfte und andere Formen hybrider Kriegsführung. Man sieht das bereits in Ungarn oder der Slowakei.
Scheitert Europa daran, den Menschen in der Ukraine zu helfen, die sich bewusst gen Westen orientieren, wäre das auch ein moralisches Fiasko. Es ginge dann nicht nur um ein gebrochenes Versprechen, sondern um die Zukunft der europäischen Sicherheitsordnung insgesamt.
J.P.:
Sie erwähnten die anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland. Viele Menschen hierzulande wünschen sich laut Umfragen Ruhe und Normalität. In Ländern wie Polen warnt man hingegen vehement davor, Putin zu beschwichtigen. Was würden Sie jenen in Deutschland sagen, die einfach hoffen, Putin werde sich beruhigen?
Dr. Irina Scherbakowa:
Historisch war es ein großer Fehler, nicht zu erkennen, wie sich das Regime in Russland immer mehr zur Diktatur und zu einem zunehmend militanten Nationalismus entwickelte. Solche Diktaturen neigen früher oder später dazu, ihren Machtanspruch nach außen zu tragen. Seit dem Maidan 2013/14, als die Ukraine sich vom russischen Einfluss lösen wollte, gilt sie für Putin als Feind.
Diese Kurzsichtigkeit Europas führte dazu, dass man Putin nicht rechtzeitig Grenzen aufgezeigt hat und bis zuletzt Geschäfte machte – Stichwort Nord Stream 2. Das Ergebnis sehen wir heute: Ein Krieg mit hunderttausenden Toten, der Millionen Flüchtlinge in Bewegung setzt, das Risiko einer atomaren Eskalation erhöht und ungezählte Umweltzerstörungen mit sich bringt.
Was Syrien angeht: Ohne die russischen Bombardements wäre die Flüchtlingsbewegung nach Europa möglicherweise weitaus geringer gewesen. Putin ist schon lange ein Risikofaktor für Frieden und Stabilität – nicht nur in Europa, sondern global.
Am Ende könnte sich die jetzige Zurückhaltung für Europa als viel teurer erweisen als eine gezielte militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine. Ein Wiederaufbau dort böte sogar wirtschaftliche Chancen. Aber dafür muss Europa bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.
Für mich ist klar: Wer glaubt, sich in eine ruhige Ecke zurückziehen zu können, während ein so aggressives Regime Krieg führt, irrt sich. Die Folgen würden ganz Europa einholen – politisch, wirtschaftlich und moralisch.
J.P.:
Eine letzte Frage: Erst vor Kurzem trafen sich in Riad Delegationen aus den USA und Russland. Kreml-Sprecher Pieskow sagte danach, Putin sei unter Umständen bereit, sich mit Selenskyj persönlich zu treffen, obwohl er an dessen Legitimität zweifle. Das klingt nach einer ersten vorsichtigen Annäherung seitens des Kreml. Wie beurteilen Sie das?
Dr. Irina Scherbakowa:
Selenskyj hat ebenfalls gesagt, er sei zu einem Treffen mit Putin bereit, wenn es nötig werde. Aber ehrlich gesagt glaube ich Putin kein Wort. Er versteht nur die Sprache der Stärke. Nur wenn er merkt, dass die Ukraine nicht allein dasteht und militärisch weiter unterstützt wird, könnte er unter Druck einlenken.
Man darf nicht vergessen: Wir sprechen von einem Kriegsverbrecher, der einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen hat. Sich mit so jemandem an einen Tisch zu setzen, ist moralisch äußerst schwierig. Kommt es zu einem zynischen Deal zu Lasten der Ukraine, wäre das ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit des Westens. Ich fürchte, das würde langfristig auf uns zurückfallen.